Im Frühling 2020
Meine lieben Freundinnen und Freunde in Brelingen,
heute schreibe ich euch zum ersten Mal in meinem dreihundertjährigen Leben!
Warum schreibe ich euch einen Brief? Einen Brief kann man viele Male lesen! Wisst ihr, wie oft liebe Töchter und Söhne jeden Alters an meinen Stamm gelehnt am Boden saßen und den Brief einer nach Amerika ausgewanderten Schulkameradin, die Postkarte eines fast vergessenen Verehrers, die Zeilen der geliebten Großmutter oder die klugen Anmerkungen eines Freundes gelesen haben? Leises, stockendes Wispern von Worten oder halben Sätzen drang zu mir nach oben. So manches Mal krallten sich Hände in die Erde und Wiese um meinen Stamm. Mit dem leisen Rauschen meiner Blätter und dem Schatten, den Stamm und Baumkrone liefern, habe ich diskret Beistand geleistet, als Baumdame mit feiner Herzensbildung.
Also, ich schreibe euch einen Brief! Nach dreihundert Jahren zum ersten Mal! Euch kommen drei Jahrhunderte lang vor. Für mich dauert ja die Kindheit allein schon 80 Jahre, also ich vermute, ihr Menschen und wir Eichen haben ein etwas unterschiedliches Zeitgefühl.
Ich möchte euch zuerst ein klein wenig aus meinem Elternhaus, aus meinem vergangenen Leben, aber auch aus meinem Alltag erzählen. Von meinen Sorgen und meinem Dank dann später.
Als Familienmitglied der Stiel-Eichen, die auch „Sommer-Eichen“ genannt werden, wurde ich zwischen 1700 und 1720 hier in Brelingen geboren. Genau erinnere ich mich nicht, aber ich hatte wohl einige Geschwister. Gemeinsam haben wir im Herbst und Winter dafür gesorgt, dass die Tiere auf den Höfen, die wir umgaben, mit lecker Eichelsalat, Eicheleintopf und Eichelbrei versorgt waren. Viele Schwestern sind verschwunden. Ich vermisse sie. Heute stehen an ihrer Stelle Häuser für euch Menschen – und eure bunten Blechkisten.
Mein Brust-, ach nein mein Stammumfang liegt bei viereinhalb Metern. Mit meinen 28 Metern bin ich noch gar nicht ausgewachsen! Im Laufe der nächsten zwei- bis fünfhundert Jahre werde ich etwa 50 Meter hoch sein. Vielleicht werde ich nicht ganz so groß, wie meine Schwestern im Wald – dafür bin ich mit meinen 30 Metern schon jetzt breiter als viele meiner Geschwister.
Ich bin Tiefwurzlerin, gehöre zu den Lichtholzarten und bin – und das soll nur ein klein wenig hochblättrig klingen – ein sehr wertvoller und schöner Baum, was man auch auf vielen Fotos und Zeichnungen sehen kann!
Wie sieht mein Alltag im Wechsel der Jahreszeiten aus? Ich erzähle mal vom Winter: Da lasse ich mir gemütlich von der Wintersonne meine reich verzweigte, blätterlose, breite Baumkrone wärmen und genieße den süßen Duft der blühenden, wintergrünen Heckenkirsche und des gelb blühenden Winterjasmins. Beide gedeihen bestens in meinem Schatten.
Ach so. Und der Efeu. Diese Bienenweide umrankt meinen Stamm. Aber nur bis kurz über meine Füße, also bis etwa 3 Meter Höhe. Scheinbar gefällt euch Gärtnerinnen und Gärtnern so ein grünes Kränzchen da unten.
Kinder und Erwachsene, alle sitzen im Winter gerne in gemütlichen Runden am Kamin oder um den gut gedeckten Küchentisch. Diese Geselligkeit liebe ich auch! Im Winter besuchen mich Saatkrähen, Ringeltauben, Amseln, Kohlmeisen, Spatzen, Buchfinken, Kleiber und, und, und. Das Vogelhaus in meinem Schatten ist für die Vögel das, was einst die Melkbank für die Brelinger Jugend war. Ein gut besuchter Treffpunkt!
Aber nicht nur die Vögel schwatzen in meinen Zweigen! Das Eichhörnchen und die Mäuse sausen meinen Stamm und meine Zweige entlang, spielen an milden Tagen Fangen. Ach, diese kleinen Wesen mit den dunklen Knopfaugen muss Baum einfach lieb haben!
Kennt ihr die Lenzrose? Ich erfreue mich an ihr und vielen anderen Blumen, die vom Winter bis zum Herbst in meinem Schatten in allen Farben wachsen, blühen und gedeihen. Hat was von bunten Fußnägeln, oder?
Ich deutete es schon an. Ich hatte vor ein paar Monaten arge Sorgen. Es lag ein Raunen in der Luft, weil die empfohlene baumpflegerische Behandlung teuer werden würde. Warum zittern denn meine Zweige schon wieder so aufregt? Ist doch alles gut geworden! Pssst! Einen Moment. Einmal in Ruhe durchatmen. So. Jetzt erzähle ich der Reihe nach von dem wohl merkwürdigsten Erlebnis in meinem Baumdamen-Leben:
Einen Tag nachdem die Störche wieder da waren, am allerletzten Ende des Februars, zu dem es nur alle vier Jahre kommt, ging es los. Vier Männer standen um mich herum und sprachen von „Dynamischer Bruchsicherung“. Komisches Wort. Es ging darum, euch alle, ihr Freundinnen und Freunde aus Brelingen, beim Spazierengehen durch unser Dorf vor meinen herunter fallenden Ästen zu schützen. Also vor denen, die eigentlich noch ganz fidel aussehen, aber bei einem Sturm ganz schön in Not geraten könnten. Und noch etwas irritierte mich. Zwei Fahrzeuge knatterten heran. Zum ersten Mal hörte ich das Wort LIFT? Wie? Was? Warum nennen sie diese merkwürdig in die Höhe strebenden Maschinen fast ebenso so wie meine gute Brelinger LUFT? Egal. Vier Jungs kümmern sich nun einfühlsam und voller Wertschätzung um meine Zweige und gurten sie an! ANGURTEN? Während ich erst nach und nach begreife, was dieses neumodische Wort für mich als Baumdame bedeutet, geht es schon weiter. Vorsichtig und geschickt werden tote Äste entfernt und gekürzt. TOT hört sich so schlimm an, aber ihr könnt euch das so ähnlich wie Fingernägel schneiden vorstellen. Tut meistens nicht weh. Die Arbeiten dauern. Nach und nach kribbelt es mich von den Wurzeln bis zur Krone. Vier Menschen, die alle an mir herumwerkeln. Mal kitzelt es hier, mal ziept es da. Am Ende sagen die Baumpfleger auf und unter mir, dass sie stolz und glücklich sind, zum Erhalt meiner schönen Krone beigetragen zu haben. Wenn das solche Jungspunde, die doch mit ihren unter 80 Jahren noch im Kindesalter stecken, sagen, lässt mich das denn doch ein klein wenig verlegen mit meinen zarteren Zweigen rauschen. Schon schallt es GEGLÜCKTE KRONENSICHERUNG aus vielen Kehlen! Und die meinen tatsächlich meine Krone! Wenn das die Königin von England hören würde! Eine Krone tragen wir beide, aber ich bezweifele, dass sie in ihrem langen Leben je eine so liebevolle Kronensicherung wie ich geschenkt bekommen hat! Meinen Brelinger Freundinnen und Freunden, insbesondere meiner Eigentümerin und meinen allernächsten und allerliebsten Nachbarn sei DANK!
Genug des Erzählens über mich selbst. Inzwischen höre ich Jung und Alt nur noch von CORONA sprechen. Männer, Frauen, Kinder gehen merkwürdig verkleidet in großem Abstand und ein bisschen gebückt. Ich habe das Gefühl, dass ich immer mehr Falten in Gesichtern entdecke. Kommt! Meinen kühlenden Schatten, mein beruhigendes Rauschen, meine Standfestigkeit, meine liebvolle Gastfreundschaft für Menschen, Pflanzen und Tiere schenke und verspreche ich euch. Zumindest für die nächsten 300 Jahre.
Sehr herzlich,
eure Eichen-Baumdame
Text: Maria Eilers / www.mariaeilers.de